Nach fünf Monaten ist es nun so weit. Der Flieger, in dem ich sitze, taucht in eine Wolke ein. Es ruckelt kurz, dann brechen wir aus der Wolkendecke aus und meine Sicht auf ein ganz besonderes Land wird frei gegeben: Indien.

Viel habe ich schon von diesem Land gehört. Man hasst es oder liebt es, heißt es. Oder man tut beides. Es soll mit eines der schwersten Länder zum Radreisen sein.

Ich bin dennoch gespannt. Gespannt, auf das, was mich erwartet. Gespannt ob ich Indien gewachsen bin. Gespannt auf Indien in all seinen Facetten.

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Sanft setzten wir auf dem Rollfeld auf. Ich habe geplant, 3000 Kilometer in diesem Land zu fahren. Gewagt? Mit Sicherheit.

Da mein Fahrrad noch gut verpackt in einem Karton liegt, muss ich es erst einmal zusammen bauen. Ich lasse mir von Flughafenangestellten eine geeignete Stelle weisen, dann fange ich an. Schnell gesellen sich mehr und mehr Leute um den komischen Westler, der mit einem Fahrrad aus dem Flughafen gekommen ist. Mir soll es recht sein, denn so bekomme ich ein bisschen Unterstützung beim Zusammenbau und bin im Nu startklar.

Und schon geht es hinein ins Getümmel. Um zu meinem Hotel zu gelangen, muss ich vier Kilometer auf der Hauptstraße in Chennai zurücklegen. Und nach der ersten Minute ist klar, der Verkehr ist chaotischer, als alles was ich bisher gesehen habe. Das klingt aber schlimmer, als es ist. Für mich ist das Ganze nur die Krönung, in anderen Ländern war der Verkehr auch schon schlimm. Was mich hingegen beim ersten Mal richtig von den Socken haut, ist ein Kuh, die friedlich grasend in der Mitte der Autobahn steht. Davon habe ich zwar schon gehört, aber es ist eine Autobahn!

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Mein Hotel für die Nacht ist recht angenehm. Mahnend wird mir in den frühen Morgenstunden nochmal ins Gedächtnis gerufen, dass ich aufpasse, was ich zu mir nehme, als sich im Nebenzimmer ein anderer Gast die Seele aus dem Leibe kotzt.

Heute ist Weihnachten. Das ist mit Sicherheit das ungewöhnlichste Weihnachten bisher für mich. Da ich meinen Onkel in Sri Lanka treffen konnte, kann ich zu mindestens ein paar Weihnachtskarten und ein Geschenk auspacken. Etwas Heimat in der Ferne.

Dann muss ich aber los, es ist schon wieder spät. Und so geht es zum zweiten Mal ins indische Verkehrschaos. Für zwanzig Kilometer folge ich der viel befahrenen Hauptstraße. Danach biege ich auf eine Nebenstraße ab und es wird deutlich ruhiger. Die Nebenstraße macht ihrem Namen auch bald alle Ehre, denn nach ein paar Kilometer fahre ich nur noch auf einem holprigen Feldweg und die ersten Inder meinen, ich müsste mich verirrt haben.

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Ich bin eine Weile auf diesem Feldweg unterwegs, da erreiche ich ein kleines Dorf. Auf einmal steigt der liebliche Duft von Räucherstäben in meine Nase und ein fremdartiger Gesang an meine Ohren. Ich verfolge sie zu ihrem Ursprung zurück und stehe vor einem kleinen Tempel oder Schrein. Ich nähere mich und werde freundlich begrüßt. Um ich ihn herum steht eine Menge an Indern, klatscht und rezitiert. Alle Augen sind auf einen weißhaarigen Mann gerichtet, der nach meiner Auffassung den Mittelpunkt des Rituals darstellt. Nach einer Weile steht er auf und die Inder drücken ihm Geld in die Hand. Eine Inderin mit gutem Englisch beginnt sich interessiert mir zuzuwenden und ich muss mich erklären. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Das Staunen ist danach vielen ins Gesicht geschrieben.

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Nach Beendigung des Rituals gibt es ein Reisgericht. Aus einem riesigen Topf bekommt jeder einen großen Haufen auf seinen Teller. Auch ich werde herzlich dazu eingeladen. Super, denn ich habe selbst nicht mehr viel Essen.

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Nach dem Essen mache ich mich wieder auf meinen Weg. Es geht weiter über sehr kleine Straßen von sehr kleinen Dörfern zu sehr kleinen Dörfern, an Seen, Wiesen und Wäldern entlang. Die Luft ist gut und frisch.

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Als es bereits auf 17:00 zugeht, erreiche ich ein kleines Dorf. Meine Beine fühlen sich müde an und so entschließe ich mich, hier nach einer Übernachtungsmöglichkeit Ausschau zu halten. Ich finde eine kleine Kirche und denke, die können an Weihnachten doch keinen Christen draußen stehen lassen. Das bin ich ja zu mindestens auf dem Papier. Jedoch ist gerade niemand zuhause.

Dafür bildet sich aber wieder eine Gruppe um mich. Als sie mein Problem verstehen, versuchen sie de Pastor aufzutreiben und, als erfolglos, organisieren sie mir eine andere Unterkunft. Ich kann im Büro des Bürgermeisters schlafen.

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Unter den jungen Männern sind auch Christen und da ich gesagt habe, ich sei auch Christ, berichten sie ganz stolz, dass heute Abend Messe wäre. Mist. Wie komme ich da jetzt wieder raus? Auf Messe habe ich keine Lust. Letztendlich erkläre ich, dass ich viel zu müde bin und jetzt schlafen gehen muss. Sie sind zwar etwas verwundert, ich kann so aber in Ruhe schlafen. Wobei über den Abend immer wieder Leute auftauchen und die mich sehen wollen. Hallo! Ich will schlafen!

Am nächsten Tag geht es weiter, diesmal auf etwas größeren Straßen. Am Vormittag komme ich bei einem weiteren, diesmal aber großen Tempel, vorbei. Leider ist dieser nur über Treppen erreichbar und ich will mein Fahrrad nicht unbeaufsichtigt stehen lassen.

Vor dem Tempel sind mehrere junge Mütter und Kinder. Sie machen einen sehr ärmlichen Eindruck, ganz verdreckt und einige der Kinder laufen nackt herum. Zwei der Mütter sehen sehr jung aus, sie könnten locker in meinem Alter sein. Ich versuche mich in solchen Situationen immer in ihr Leben hineinzudenken. Was lässt sie morgens aufstehen und was lässt sie vorwärts schreiten?

Über den Tag geht es weiter durch das ländliche Indien. In einem kleinen Dorf werde ich auf ein paar Reispuffer eingeladen. Die Landschaft sieht manchmal fast so aus wie bei uns, wenn man durch eine Allee aus Laubbäumen fährt, könnte das manchmal auch Deutschland sein. Irgendwann brechen Palmen dann aber wieder das Bild.

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Am Abend lande ich in Chepot, einer kleinen Stadt. Ich frage Anwohner nach einem Guesthouse oder Ähnlichem, sie meinen aber, so etwas hätten sie nicht. Da erblicke ich aus der Ferne zwei Kirchtürme. Diese Kirchtürme stammen von einer großen Kirche und bahne mir meinen Weg zum Pfarrhaus. Dort frage ich nach einem Schlafplatz und werde vom obersten Pfarrer in ein Gästezimmer einquartiert. Er kann sogar deutsch sprechen, da er seine Ausbildung in Deutschland absolviert hat und immer wieder nach Deutschland fährt. So haben wir zusammen Abendessen und Plaudern ein bisschen.

Am nächsten Morgen setzte ich dann meinen Weg fort. Mein Ziel heißt Tiruvannamalei.

 

Datum: 23.Dezember 2015 - 25. Dezember 2015

8 Kommentare

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  • Hallo Samuel,
    neben vielen phantastischen Fotos, die ich mir auf Deinem Blog schon angesehen habe, gefällt mir das Foto von dem kleinen indischen Mädchen mit seinen dunklen, verträumt wirkenden Augen und dem großen schwarzen Punkt auf seiner doch noch kleinen Stirn, sehr gut – wunderbare Momentaufnahme.
    Liebe Grüße
    Teresa

  • Lieber Samuel,
    das ist wirklich ein toller Eintrag geworden. Schön geschrieben ! 🙂 Man merkt, wie sehr dir diese Erlebnisse ans Herz gegangen sind. Auch die Bilder sind wirklich nice geworden, wie son kleiner Profifotograf inzwischen 😀
    Hoffe dir gehts soweit gut ! Bin grad im letzten Klausurenmarathon :/

    Liebe Grüße von deiner Schwester 🙂

    • Danke! Ich habe jetzt auch mal gemerkt, dass ich die Farbtoene auf meinem Photoapparat aendern kann.

      Na dann viel Glueck! 😀

      LG Samuel

  • Danke für den ausführlichen Bericht, besonders die vielen eindrucksvollen Fotos. Die bringen mir Indien wieder ganz nahe. Sind ja fast 20 Jahre, dass ich dort war …
    Mit den Übernachtungen hattest du ja bis jetzt auch immer Glück!
    Schöne Grüße
    Lutz

  • Hallo, Samuel , ich kenne dich nicht persönlich , bin aber eine gute Freundin von Dorothee , Lutz kenne ich aus Lindauer Zeiten.
    Ich bewundere deinen Mut zu dieser Fahrt !
    Du wirst dein Leben lang von den Erfahrungen dieser Tour profitieren – sie ist einzigartig !
    Auch wen du vielleicht kein praktizierender Christ bist – ich wünsche dir Gottes Segen und Schutz für jeden km .
    Suse

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